Montagsnächte

Dienstag, 29.08.1989, G. Südharz

Weg. Abgehauen. Einfach so.

Mama muss da etwas falsch verstanden haben. Ich werde alles mitnehmen, was ich auf meinen Spaziergängen für Suse gesammelt habe. Ein Hühnergott ist dabei und ein weiß gesprenkelter Stein mit Gesicht. Ich werde mit dem Fahrrad zu ihr fahren, und sie wird die Tür aufreißen und mir um den Hals fallen und lachen:

Was? Ich im Westen? Spinnst du?

Mama hat gesagt, Lingen liege in Niedersachsen. Sie hätte gleich sagen können, auf einem anderen Planeten. Sie sagte auch, dass sie unter den ersten waren, die rüber sind und dass das alles ein Wunder sei. Dass sie jetzt bei Rüdigers Tante wohnen würden. Und dass es ihnen gut ginge. Als wir heute Vormittag unser Gepäck im Flur abstellten und ich Mamas Gesicht sah, wusste ich es. Sie trank langsam ihren Kaffee und war gefasst, als würde sie von einer Fremden reden. Oma stand am Herd, goss kochendes Wasser in den Kaffeefilter und wischte sich zwischendurch mit ihrem Taschentuch über die Augen. Tom nahm den nächsten Bus nach Hause und sagte, dass er nach dem Rechten sehen müsse.


Montag, 02.10.1989, Leipzig

Die Türme der Thomaskirche zeichnen sich wie ein Scherenschnitt gegen den dunklen Himmel ab. Der Kirchhof ist voller Polizei-LKW´s. Hunde bellen. Menschen rennen Richtung Marktplatz. Eine blasse Frau wird von zwei Männern zu einem Krankenwagen geführt. Neben der geöffneten Tür steht ein Mann mit verbundenem Kopf.

„Maik!“, ruft Miriam. Sie weint wieder heftiger, fasst meine Hand und zieht mich weiter. Die Polizisten sind überall. In den Halterungen an ihren Gürteln stecken Gummiknüppel.

„Ich habe Angst vor Hunden“, flüstert Miriam.
„Die haben doch einen Maulkorb.“ Ich hoffe, dass meine Stimme nicht zittert. Ich möchte nicht, dass sie merkt, wie groß auch meine Angst ist.
„Lassen Sie uns bitte durch“, sage ich zu dem Grünen, der uns den Weg versperrt.
„Das hätten Sie sich früher überlegen sollen.“ Er starrt an mir vorbei.
„Bitte! Wir haben niemandem etwas getan!“, bringe ich heraus. Hinter uns wird gedrängelt, ich muss Miriams Hand loslassen, vor mir sind immer mehr Grüne, sie haben eine Kette gebildet, kein Durchkommen mehr. Miriam geht zu Boden, ich will zu ihr, da trifft mich ein dumpfer Schlag am Oberarm, ich taumele, vor Schmerz bleibt mir die Luft weg, dann höre ich mein eigenes Stöhnen. Ein Mann hilft Miriam auf, sie ist blass und hält sich ihre Hand, fast bin ich bei ihr, mein rechter Arm hängt herab, als würde er nicht zu mir gehören, und in der Schulter pocht der Schmerz, da steht wieder ein Grüner vor mir. Ich bin nur noch wütend, ich will ihn anschreien, ihm alles entgegen schreien, aber ich kann nicht, keinen Ton kriege ich heraus. Ich bin fast blind vor Tränen, und plötzlich ist Miriam neben mir.

„Soll ich euch zum Krankenwagen bringen?“ Die Stimme des Grünen ist hell, fast piepsig. Ich schüttele heftig den Kopf und sehe erst jetzt seine weit aufgerissenen Augen und den zitternden Mund.
„Ania, komm, es wird alles gut, komm.“
Als wir den Krankentransport erreicht haben, schaue ich mich um. Er ist nicht mehr da.

Samstag, 07.10.1989, Leipzig

In der Osthalle des Hauptbahnhofs ist es düster und still. In einer Ecke sitzen zwei Bereitschaftspolizisten auf dem Boden. Ihre Haare sind nass, und der Boden um sie herum ist mit Splittern übersät.
„Die armen Schweine“, sagt Tom.
„He, du da, du solltest besser nicht in die Stadt gehen.“ Einer der Männer winkt in unsere Richtung. „Wärst nicht der erste, den sie heute verkloppen würden.“
„Ach was. Aber danke.“
Ich fasse seine Hand fester. „Ich glaube, du solltest das ernst nehmen!“
„Meinst du, ich lasse dich allein da draußen rum laufen? Außerdem − da soll erst mal einer kommen.“
„Ich weiß nicht, Tom … Lass uns doch sonst …“
Die Peitschenlampen auf dem Vorplatz werfen ihr Licht auf ein gespenstisches Bild. Die Straße ist übersät von Plastiksplittern und zerbrochenen Schilden, eine Polizisten-Mütze wird vom Wind über die Straßenbahnschienen geweht. Keine Bahn, kein Auto. Gegenüber an der Haltestelle stehen wieder Jeansjackenträger mit Bierflaschen in der Hand.
„Ja, guckt mal, wer da kommt“, ruft der eine. „Wo willst du denn hin in deiner schicken Uniform? Komm, geh heim, sonst leuchten wir dir heim.“
Bevor Tom irgendetwas antworten kann, habe ich ihn über die Straße gezogen. Wir hasten durch die Stadt. Er macht so große Schritte, dass ich kaum mitkomme.
„Das kriegen die von mir zurück. Irgendwann kriegen die das zurück.“ Er schiebt sein Kinn vor und geht immer schneller. Wir laufen über den Marktplatz und an den dunklen Buden vorbei. Thüringer Würstchen. Keramik aus der Lausitz. Überquellende Abfallkübel.
„Wo sind eigentlich die vielen Polizisten?“, frage ich.
„Geschlagen vom Pöbel“, sagt Tom und presst die Lippen zusammen.
Sie sitzen auf Klappstühlen oder Hockern, trinken Rotwein und schwarzen Kaffee und diskutieren über das Flugblatt, das sie am Montag verteilen wollen. Ihre Gesichter sind weich gezeichnet vom Kerzenlicht, in der Luft hängen Schwaden von Zigarettenrauch, und die Aschenbecher zwischen den Papierstapeln quellen über. Miriam und ich sind die einzigen, die nicht rauchen. Die Namen der anderen rauschen an mir vorbei, und ich bin froh, Magnus und Maik schon zu kennen. Rosi, Maiks Freundin, stellt ein Glas mit Wein vor mich hin.
„Wie sieht es draußen aus?“, fragt mich Magnus.
„Wie nach einer Schlacht.“
„Was soll das erst am Montag werden.“ Rosi hat sich wieder gesetzt und dreht ihr Glas in den Händen. Sie hat eine tiefe, voll klingende Stimme und trägt ein langes schwarzes Kleid. Ihre Locken hat sie mit einem Tuch im Nacken gebändigt. Die anderen schweigen. Der Duft des Weins steigt mir in die Nase.
Ein dünner Mann mit spärlichem Haar hebt sein Glas. „Auf all unsere Freunde.“
Der Wein ist herb und schwer und füllt meinen Magen mit Wärme.
„Es ist doch nicht das erste Mal, dass sie Bernd erwischt haben“, sagt Maik.
Miriam schüttelt den Kopf. „Aber diesmal ist es ernst.“
„Die haben sogar noch auf die eingeprügelt, die schon verhaftet waren“, sagt der dünne Mann.
„Das war die nackte Panik, Uwe.“ Maik lehnt sich zurück. „Die wissen nicht mehr ein noch aus. Wer weiß, was gerade in Berlin abgeht.“
„Wo sie ihn wohl hingebracht haben?“ Miriam stützt ihr Gesicht in die Handteller.
„Das mit Markkleeberg ist hoffentlich nur ein Gerücht“, sage ich und beiße mir im nächsten Moment auf die Lippen. Niemand sagt etwas. Alle schauen mich an.
„Du meinst das agra-Gelände?“, fragt Maik.
Ich nicke und seine Augen werden zu Schlitzen. „Wer verbreitet so was?“
„Mein Vater hat es erzählt“, sage ich, „aber es ist nur ein Gerücht, ihr wisst doch, man erzählt sich viel.“
„Na hoffentlich“, sagt Magnus und drückt seine Kippe bedächtig aus.
„Ich habe auch davon gehört“, sagt Rosi leise.
„Espenhain ist auch im Gespräch“, sagt Maik.
Miriam neben mir hat ihr Gesicht in den Händen verborgen.
Ich beschimpfe mich innerlich selbst, beschließe, ab jetzt zu schweigen, trinke meinen Wein und sehe zu, wie sich die anderen mit den Flugblättern beschäftigen. Der Raum ist bis auf den Tisch und einen in der Ecke stehenden Ohrensessel leer. Nichts lenkt vom Wesentlichen ab. Ich höre weiter zu, habe aber Mühe meine Augen offen zu halten, die Stimmen entfernen sich von mir, werden zu einem monotonen Rauschen, und irgendwann stehe ich auf und gehe nach draußen.

Sonntag, 08.10.1989, Leipzig

Im Treppenhaus ist es schon dämmerig. Ich habe das Buch fast ausgelesen, steige langsam die Stufen hinauf und krame in Gedanken versunken nach dem Wohnungsschlüssel, bis mir auffällt, dass die Tür offen ist. Als ich hinein gehe, schallt mir „Bohemian Rhapsody“ in voller Lautstärke entgegen. Ich lasse den Rucksack fallen und bemerke Bernd erst, als ich meine Jacke ausgezogen habe. Er lehnt in der Küchentür, und als ich bei ihm bin, als ich ihm um den Hals falle, als er mich an sich drückt, kleben seine feuchten Haare an meiner Wange. Er riecht frisch geduscht, und ich habe Angst, dass er mein Herz hört. Es dauert lange, bis wir uns loslassen.
„Du bist wieder da“, sage ich.
„Ja.“ Seine Augen sind dunkel. Er trägt keine Brille. Um die verkrustete Wunde an seiner rechten Schläfe hat sich ein roter Rand gebildet. Ich krame im Küchenschrank nach Verbandszeug, mein Gesicht glüht, ich finde eine Flasche mit Jodtinktur und eine Packung mit Mullkompressen, und als ich mich wieder zu ihm umdrehe, klopft es an die Tür. Er geht hinaus und öffnet, und ich höre lange nichts mehr.
Miriams Augen strahlen, als sie zusammen in die Küche kommen, sie drückt ihn auf einen Stuhl und nimmt mir die Jodflasche aus der Hand. Als sie mit einem Tupfer vorsichtig die Wunde berührt, schließt er die Augen.
„Sie haben euch tatsächlich nach Markkleeberg gebracht?“, fragt sie.
„Ein echtes Abenteuer“, sagt er wie zu sich selbst.
„Übernachten im Pferdestall. Auf Steinboden. Das Stroh nahmen sie für ihre Hunde.“
Miriam setzt sich auf seinen Schoß. Als sie den Tupfer wieder auf die Wunde legt, verzieht er das Gesicht.
„Wie das liebe Vieh“, sagt er und lacht lautlos und so heftig, dass seine Schultern zucken.
„Du darfst dich nicht bewegen“, sagt Miriam so leise, dass ich es kaum hören kann. Er schließt wieder die Augen und lehnt seine Stirn an ihre Schulter.
Ich nehme die Jodflasche vom Tisch, schraube den Verschluss zu, stelle sie in den Schrank zurück. Mir ist so schwer. Ich möchte mehr für ihn tun können, für ihn da sein, ich möchte nicht sehen, wie sie ihn in den Arm nimmt, und ich lehne mich an die Spüle, mit dem Rücken zu ihnen, und denke an den Moment, der nur uns gehörte, versuche, ihn festzuhalten und empfinde ihn doch schon wie einen Traum.

Samstag, 21.10.1989, Leipzig

Ben schenkt uns Wein ein, er nimmt meine Hand und will mich auf seinen Schoß ziehen, doch ich löse mich von ihm und gehe zum Fenster. Der Hinterhof ist dunkel, im Nachbarhaus brennt kein Licht.
„Maik ordnet an, Maik organisiert, Maik hat seine Berufung gefunden.“
„Seid ihr überhaupt noch Freunde?“ Ich drehe mich zu ihm um.
„Darum geht es doch gar nicht.“ Er zündet sich eine Zigarette an, läuft auf und ab.
„Wir wissen, woher wir kommen, aber nicht, wohin wir gehen. Seit Jahren versuchen wir, in Verhältnissen zu überleben, die uns so gut wie keinen Raum lassen. Wir sind Profis im Tarnen und Täuschen, im Improvisieren und Flüchten. Jetzt, wo wir die Gelegenheit haben, etwas zu ändern, sind wir überfordert, denn wir haben nur gelernt, Strukturen zu nutzen, die es schon gibt. Aber anstatt sich das einzugestehen, innezuhalten und nachzudenken, verfällt Maik in Aktionismus. Nichts geht schnell genug, alles muss sofort sein, und alle müssen mitmachen, ob sie nun wollen oder nicht.“
Er ist wieder lauter geworden, lehnt am Kachelofen und drückt die Zigarette auf einer Untertasse aus.
„Aber irgendwo muss man doch anfangen.“
„Ja, stimmt. Aber ich bin kein Organisationstalent. Kein Rhetoriker. Mein Weg ist ein anderer. Und das sieht Maik nicht ein. Er wirft mir vor, zu viel Distanz aufzubauen, mich aus allem rauszuhalten. Ich habe den Aufruf unterschrieben, ich verfolge alles, was passiert, ich fotografiere. Und doch kommt er immer wieder, quatscht auf mich ein, drischt Phrasen und will mich für seine Zwecke einspannen. Dich hat er doch auch gleich angehauen.“
„Er ist nun mal ein anderer Typ und versucht, seine Visionen zu leben. Und die sind, soweit ich weiß, ähnlich wie deine.“
„Eine zivile Gesellschaft mit mündigen Bürgern? Keine hohlen Politiker mehr? Keine aufgeblasene Bürokratie? Aber dafür reicht es nicht, Havels ‚Versuch, in der Wahrheit zu leben’ zu lesen, sich die Köpfe heiß zu reden und doch nur aneinander vorbei zu quatschen. Sie wollen praktische Pläne machen und bleiben doch Theoretiker.“
„Es ist ein Anfang, Ben.“
Es ist das erste Mal, dass ich ihn so nenne, und die Falten verschwinden von seiner Stirn, die Augen werden wieder größer. Er kommt zu mir und legt seine Stirn gegen meine. „Für Mitte November planen sie eine Kundgebung in Leipzig. Legal. Angemeldet. Sie träumen von tausenden Teilnehmern. Glaubst du daran?“
„Warum nicht?“
Er schüttelt den Kopf und legt die Arme um mich. „Miriam redet auch auf mich ein. Sie brauchen Köpfe wie dich, sagt sie.“
„Sie hat Recht. Auch das, was Rosi eben gesagt hat, stimmt. Und du hast doch nichts zu verlieren.“
Ich lehne meinen Kopf an seine Schulter.
„Sollen wir schlafen gehen?“ fragt er und pustet mir das Haar aus der Stirn.

Mittwoch, 01.11.1989, G. Südharz

Drinnen klopfe ich drei Mal an die Tür zum Besprechungsraum, und es kommt mir vor, als würde ich mir dabei selbst zusehen.
„Guten Abend“, sage ich laut, die Türklinke noch in der Hand. Meine Stimme ist ruhiger, als ich erwartet habe. Alle Stühle sind besetzt. Ich sehe Überraschung in Papas Augen und wie sich seine Lippen bewegen.
„Ja, bitte“, sagt der Bürgermeister.
„Wir möchten euch um ein Gespräch bitten“, beginnt Frau Lehne.
„So?“ Im Gesicht des Bürgermeisters regt sich nichts.
„Kommt ihr von dieser Dableiberdemo da draußen?“, fragt ein Mann, den ich nur vom Sehen kenne. Herr Lehne und Papa stecken die Köpfe zusammen. Ich sammele mich und gehe zum Fenster, die Rolle mit den Unterschriften noch in der Hand, ich öffne es und in dem Moment ruft eine Stimme: „Wir bleiben hier!“ Aus der Stimme wird ein Chor, kalte Luft weht in den Raum und Papas Stuhl knarrt, als er aufsteht. Er nimmt die Liste entgegen, entrollt sie und liest schweigend die Unterschriften.
„Wie viele seid ihr?“, fragt der Bürgermeister.
„Dreihundert haben unterschrieben“, sage ich.
„Sagen wir, halb zehn im Saal?“ Papas Blick ist unergründlich.
„Gut, ich werde es weitergeben.“
Wir sprechen miteinander wie Fremde.
„Enttäuscht uns nicht“, sagt Frau Lehne noch, bevor sie die Tür hinter uns schließt. „Ist dir eigentlich aufgefallen, dass da drin nur Männer sitzen?“, fragt sie und legt ihren Arm um meine Schultern. Ich atme tief durch, sehe wieder Papas Blick vor mir und versuche zu lächeln.