Unter Träumen

1. ANKOMMEN


Am Anfang war alles wie immer gewesen.
Vater hatte Ania vom Bahnhof der Kleinstadt abgeholt, er hatte auf dem Parkplatz vor dem frisch angestrichenen, aber menschenleeren Bahnhofsgebäude gewartet, er war ausgestiegen und hatte ihr zugewinkt. Zur Begrüßung hatten sie sich fest umarmt. Im Auto war es klimaanlagenkühl gewesen, und Ania hatte sich das Kleid über die nackten Knie gezogen. Während der Fahrt hatten sie die meiste Zeit geschwiegen und Ania hatte aufgeatmet, als sie von der Hauptstraße, die das Dorf durchzog, in Richtung der Felder und Wiesen abbogen und vor dem Haus ihrer Schwester ankamen.
Brit und Mutter wären schon auf dem Weg zum Friedhof, erzählte Vater und schüttelte auf Anias Frage hin den Kopf. Er sei in der letzten Zeit auf so vielen Beerdigungen gewesen, und jemand müsse ja schließlich auf die Kinder aufpassen. Vic sei mit Bauchschmerzen zu Hause und schlafe, und Ella würde gleich aus der Schule kommen und hoffe auf ein Fußballmatch mit Opa.
Ania lächelte, auch wenn ihr eigentlich gar nicht danach war. Ihren Vater als fürsorglichen Großvater zu erleben, irritierte und amüsierte sie noch immer.
Sie stellte ihre Reisetasche ins Gästezimmer, die Wände waren zartgelb gestrichen, es roch noch nach frischer Farbe. Doch sonst war auch hier alles unverändert, beruhigend, vertraut.
»In einer halben Stunde fängt die Trauerfeier an, soll ich dich fahren?«, fragte Vater, als sie aus dem Badezimmer kam.
»Lass nur, das schaffe ich locker.«
Zu Fuß brauchte Ania etwa eine Viertelstunde zum Friedhof, und sie wollte noch etwas für sich sein, bevor es begann.

Die Mittagssonne verbreitete Spätsommerlicht und Wärme.
Ania nahm die Sonnenbrille aus ihrer Handtasche, sie war froh darüber, ihr Haar eben noch schnell zu einem Knoten gewunden und aufgesteckt zu haben. Fast wie in Dhaka, dachte sie, doch dort hatte sie die Sonne manchmal tagelang nicht gesehen, verdeckt durch Smog und Wolken. Die Luft war heiß und feucht gewesen, und Ania hatte sich oft wie unter einer Glocke aus Schwüle gefühlt.
Nun war sie zurück, den Sommer hatte sie schon in Deutschland verbracht, und sie mochte sich nicht vorstellen, wie es sich für sie angefühlt hätte, wenn sie die Nachricht von Bernds Tod in Bangladesch erhalten hätte.
Ania spürte die wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht, schloss kurz die Augen, wechselte dann auf die schattige Seite des Amselweges und ging am Flüsschen entlang, das sich, mit Schilf und hohen Gräsern zugewachsen, durchs Dorf schlängelte. Als sie die Hauptstraße erreichte, gab es keinen Schatten mehr. Sie kniff trotz der Sonnenbrille die Augen zusammen. Nur ab und zu fuhr ein Auto an ihr vorbei.
Die Fenster der kleinen Häuser direkt an der Straße versteckten sich hinter heruntergelassenen Rollläden. In den Vorgärten nickten blasse Sonnenblumen vor sich hin. Auf der weitläufigen Wiese hinter Rothmanns Haus surrten Wespen über den Äpfeln, die am Boden lagen. Es roch nach Sommer und Kindheit, nach Zuhause, doch das passte nicht zu Anias Stimmung, es machte sie nur trauriger.
Vor dem Wartehäuschen an der Haltestelle des Schulbusses standen zwei Jungen mit Fahrrädern. Sie unterbrachen ihr Gespräch, grüßten, und Ania spürte, wie sie ihr nachsahen. Wie oft hatte sie hier gestanden, bei Regen und Schnee, zusammen mit Suse und Brit und darauf gewartet, die Scheinwerfer des Busses an der Kurve zu sehen. Das Wartehäuschen hatten meist die Jungen besetzt, mit den Mädchen, die laut waren, rauchten und kicherten. Suse war ab und zu dabei gewesen, Ania hatte lieber draußen gewartet, umfangen von Morgenmüdigkeit. Sie hatte es gemocht, für die zehn Minuten Fahrt ins Nachbardorf aus der dunklen Kälte draußen in die warme Stickigkeit des Busses abzutauchen.
Ihr Elternhaus, das auf der anderen Straßenseite, direkt an der Einfahrt zur Kastaniengasse lag, wirkte auch verlassen, aber im Vorgarten blühten farbenfroh die Dahlien, und die Holzbank, auf der Ania vor vielen Jahren gesessen und zu Bernd hinübergeschaut hatte, gab es noch immer, wenn auch verwittert, ohne Farbe und mit einer herausgebrochenen Strebe.
Das hellgrau verputzte Haus mit der breiten Treppe, auf der Bernd gesessen, geraucht und gelesen hatte, hatte seine Mutter im Frühjahr verkauft. Nun wohnte eine junge Familie darin, und die Treppe war einem offenen Verandavorbau gewichen. Eine schlanke Frau goss die Blumenkästen, sie nickte Ania zu.
Ania fühlte sich erschöpft. Der dünne Stoff ihres schwarzen Kleides klebte am Rücken, ihr Herz schlug zu schnell. So gern würde sie umkehren, zurückgehen zum Haus ihrer Schwester, Vater Gesellschaft leisten, Vic begrüßen und mit Ella das verrückte Brettspiel spielen, das sie zum achten Geburtstag bekommen hatte und an dessen Namen sich Ania nicht erinnern konnte. Oder sie könnte den Bus nehmen, zurück in die Kleinstadt fahren und in den nächsten Zug nach Leipzig steigen. Sie wäre kurz da gewesen, sie hätte es versucht, immerhin.
Vorm Grundstück von Max Kuhn ging die Hauptstraße in eine scharfe Kurve. Hinter den Resten des Gartenzauns ein Schutthaufen. Vom Haus standen nur noch drei nackte Wände mit Fensterhöhlen. Im Inneren, wo einmal das Wohnzimmer und der Wintergarten gewesen waren, hatte Max Holz aufgeschichtet. Aus der Scheune daneben, die nahezu unversehrt wirkte, drangen Hammerschläge. Das Tor war offen, doch es war niemand zu sehen. Ania lief schneller, sie wollte Max nicht begegnen, der, seit er sein Wohnhaus nach und nach verfeuerte und, mit einer struppigen Fellweste bekleidet, bei jedem Wetter im Freien wohnte, im Dorf nur noch der Wikinger genannt wurde. Er war ihr Onkel, er gehörte zu ihrer Familie, und doch war er ihr unheimlich. Sie wollte ihn nicht begrüßen, nicht mit ihm reden, schon gar nicht heute.
Sie könnte jetzt den Hohen Weg nehmen, der am Kindergarten vorbei in einem recht steilen Anstieg zum Friedhof führte. Doch Ania hatte noch etwas Zeit, sie wollte nicht zu früh am Friedhof sein und wählte den zwar längeren, aber bequemeren Weg durch den Ort.
Sie lief weiter auf dem schmalen Bürgersteig die Hauptstraße herab, die zur Dorfmitte führte. Schon von weitem sah sie einen roten Wagen, der vorm Hoftor des Hauses von Suses Mutter parkte.
Entweder Frank oder Suse – einem von beiden wird das Auto gehören. Einer von beiden wird da sein.
Das Auto hatte ein Berliner Kennzeichen. Es war also Suse. Ob sie auch auf dem Friedhof war, auf der Beerdigung des Dorfintellektuellen, wie sie Bernd oft genannt hatte? Es hatte herablassend geklungen, fand Ania, und Suse hatte Ania auch nicht verschwiegen, dass sie die Zuneigung ihrer besten Freundin zu dem etwas verschrobenen Nachbarsjungen nicht nachvollziehen konnte. Vor einem Jahr hatten sie sich zuletzt gesehen, und auch wenn die Fremdheit zwischen Suse und ihr mit den Jahren mehr und mehr zugenommen hatte und dies auch bei ihrem letzten Wiedersehen zu spüren gewesen war, hatte Ania das Treffen in guter Erinnerung behalten. Vielleicht besuchte Suse auch nur ihre Mutter.
Ania schluckte. Ihr Hals war trocken, und sie hatte nichts zu trinken dabei.
Es gab für sie kaum eine Kindheitserinnerung ohne Suse. Seit dem Kindergarten waren sie beste Freundinnen gewesen. Vielleicht würde sie ja doch auf dem Friedhof sein.
Die Ladentür der Fleischereigenossenschaft gegenüber stand offen. Ania vermied es, hineinzuschauen. Unangenehm war es ihr schon immer gewesen, doch im Moment wäre es ihr regelrecht zuwider, begrüßt und ausgefragt zu werden, ob von der Verkäuferin hinter der Theke oder von einer der alten Frauen, die mal mit Großmutter befreundet gewesen waren und zu denen die Neugier gehörte wie die hautfarbenen Feinstrümpfe und die Einkaufskörbe aus Bast.
Das Dorf wirkte auf sie wie eine leere Kulisse. Alles schien zu warten.
Vorm Dorfgemeinschaftshaus parkten zwischen den einheimischen Autos ein Opel und ein Mercedes mit Berliner Kennzeichen. Ania ging über die Straße. Vielleicht hatte eines der Autos Bernd gehört. Sie schaute durch die getönten Fensterscheiben des Opels auf eine helle Lederrückbank, ein Häuflein Stoff lag da, ein Jackett vielleicht, das bei dieser Hitze niemand tragen wollte. Nur einmal hatte Ania Bernd im Jackett gesehen, bei ihrer Wiederbegegnung vor sieben Jahren in Leipzig, es war schwarz gewesen, und er hatte es offen und lässig über der Jeans getragen, die Hände in den Hosentaschen. Ania musste lächeln, als sie daran dachte.
Sie überquerte wieder die Straße und lief den Weg zum Friedhof hinauf. Ein Dackel kläffte hinter einem Gartenzaun, sein Gebell unterbrach die Stille und hallte in Ania nach, bis sie am Friedhofstor angekommen war.




AUS BERNDS TAGEBUCH... 


Kasachstan, Nähe Almaty, 15. Juni 2012


Sie ist alt und Heilerin. Jeder hier kennt sie.
Sie schüttet mir einen Eimer Wasser über den Kopf. Und noch einen. Ich schreie. Fühle mich, als wäre ich kopfüber in einen Gebirgssee gesprungen. Sie packt meine Schultern. Schüttelt mich. Wassertropfen fliegen um mich herum. Sie murmelt etwas, ich verstehe sie nicht, öffne die Augen. Sie hält mir ihre hohlen Hände hin.
In deutlichem Russisch sagt sie: Trink! Noch einmal: Trink! Die klare Flüssigkeit schmeckt nach Moos und ihren Händen. Ich schlucke sie mühsam runter. Haben die anderen, die in der Küche sitzen, auch davon getrunken? Vielleicht haben sie damit nur ihre Gesichter gewaschen.
Plötzlich ist die alte Frau weg. Ist die Zeremonie vorbei? Bin ich jetzt aufgenommen, getauft? Darf ich sie jetzt fotografieren?
Ich schüttele mir das Wasser aus den Haaren. Wische es mir aus dem Gesicht. Schimmelgeruch in der Nase. Sie sitzt vor ihrer Hütte auf einem umgestülpten Blecheimer. Schaut mich an. Blinzelt nicht. Neigt den Kopf zur Seite.
Fotografiert zu werden, ist hier eine ernste Angelegenheit.



15. IM LAND DES WASSERS (DHAKA/BANGLADESCH, APRIL 2016) 


»Hey!«
Jasmin saß schon im Auto und hatte ein Montagslächeln für Ania. Sie frühstückte nicht, brauchte nicht mal einen Kaffee oder einen Tee, deshalb trafen sie sich, wie so oft, erst hier im Auto. Eigentlich schaffte es Ania, zurückzulächeln und ein paar Worte mit ihrer Mitbewohnerin zu wechseln, doch heute gelang ihr das nicht. Sicherlich hatte Jasmin besser geschlafen als sie, und weil sie erst mittags etwas aß, konnten sich in ihrem Frühstücksmüsli keine Ameisen angesiedelt haben.
Ania schüttelte sich innerlich noch immer, schloss die Autotür. Der Fahrer nickte ihr zu, sie fuhren aus der Tiefgarage des Hauses heraus, wendeten, ordneten sich in den Verkehr ein. Nach ein paar Metern im Schritttempo standen sie, so wie an jedem Morgen bisher. Die Klimaanlage pustete kühle Luft in Anias Gesicht. Das Hupen der Autos um sie herum und die Fahrradklingeln der Rikschas hörte sie nur gedämpft, den tatsächlichen Lärm da draußen konnte sie nur erahnen. Der Müllberg am rechten Straßenrand schien von Tag zu Tag zu wachsen, ein Straßenhund wühlte darin herum. Ania konnte sich nicht erinnern, hier jemals ein Müllauto gesehen zu haben.
Auf der anderen Straßenseite drehte ihnen die alte Frau noch den Rücken zu, sie lag an die Hauswand gedrückt, in eine bunt gemusterte Decke gewickelt, und Ania sah nur ihr offenes Haar. Sonst saß sie um diese Zeit meist auf dem Boden, aß irgendetwas aus einer Plastiktüte und betrachtete das Leben um sich herum. Sie trug einen Sari, in dem sie fast verschwand, manchmal hatte sie dessen Ärmel hochgeschoben, ihre Arme waren kunstvoll bemalt, sicherlich mit Henna. Ania fiel dies auch ab und zu bei den Frauen in der Klinik auf und sie konnte sich kaum sattsehen daran. Heute schien die alte Frau noch zu schlafen. Wenn Ania sie sah, musste sie an Mutter denken. Wahrscheinlich war die Frau im gleichen Alter. Einmal hatte Ania ihr zugewinkt, doch dann fiel ihr ein, dass sie wahrscheinlich durch die abgedunkelten Fensterscheiben des Wagens von außen gar nicht zu sehen war.
Sie standen nun schon eine ganze Weile in einer langen Schlange von Autos, heute würde es besonders lange dauern, bis sie im Büro waren. Und sie wollten noch weiterfahren. Ania atmete tief ein und wieder aus.
Jasmin versuchte erst gar nicht, sie in ein Gespräch zu verwickeln, sie tippte Nachrichten in ihr Handy, trank ab und zu einen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Auch Ania nahm sich eine kleine Plastikflasche aus der Kühltasche, die an jedem Morgen und Abend hier im Auto auf sie wartete. Inzwischen kannten Jasmin und sie sich etwas besser, so dass es leichter war, zusammen zu schweigen. Jasmin war auch seit einem Vierteljahr hier, kam aus Zürich und arbeitete für die gleiche Entwicklungshilfeorganisation. Sie teilten ein Büro, sie schulten gemeinsam Hebammen und Klinikpersonal, sie wohnten in einer Wohnung. Oh, Ania, We are like an old couple, hatte Jasmin nach ein paar Tagen gesagt und ihr helles, lautes Lachen gelacht. Um ihr Englisch zu verbessern, sprachen sie auch außerhalb der Arbeit englisch miteinander, und Jasmin rollte mit den Augen, wenn ihr ein Wort nicht einfiel, oder sie lachte auf, wenn sie einen Fehler gemacht hatte. Sie trug Pluderhosen in Übergröße, Tops und Tücher, in die sie sich einwickeln konnte, ihr rundes Gesicht war oft gerötet, und Ania konnte sich nicht erinnern, Jasmin jemals schlecht gelaunt erlebt zu haben. Auch jetzt kicherte sie leise in sich hinein, während sie die Nachrichten auf ihrem Handy las.
Ania schloss die Augen. Dauerfröhliche Menschen hatten sie schon immer angestrengt. Und wie gerne würde sie jetzt laufen. Es wären etwa zehn Minuten zu Fuß bis ins Büro, schätzte sie. Sie würde wahrscheinlich kaum Luft bekommen wegen der Abgase, die die Luft diesig und schwer machten, sie würde den Müll riechen, sicherlich müsste sie Ohropax benutzen wegen des Hupens und Klingelns um sich herum. Aber sie wäre draußen, könnte laufen und sich freier fühlen. Doch eine der wichtigsten Grundregeln für das Leben hier war, dass sie nicht allein zu Fuß ins Büro gehen durften.
Am Wochenende waren Jasmin und sie in Rajshahi gewesen, um angehende Hebammen zu unterrichten, in Rajshahi, der Stadt der Mangos. Die Saison begann im Frühsommer, und schon jetzt wehte der Duft der reifenden Früchte durch die Straßen. Ab und zu war Ania vor die Tür gegangen, um kurz die Augen zu schließen und tief zu atmen. Sie erinnerte sich daran und fand den aromatischen Geruch in ihrer Nase wieder, während das Auto in die Tiefgarage des Gebäudes einfuhr, wo sich ihre Büros befanden.
Sie würden nur ihre Materialien holen, der Fahrer würde warten, dann ging die Fahrt weiter in eine der drei Kliniken in Dhaka, die mit ihrer Entwicklungshilfeorganisation zusammenarbeiteten und wo Jasmin und sie Krankenschwestern und Ärztinnen in Geburtshilfe schulten.

Sie waren in der letzten Woche schon hier gewesen, und es bot sich ihnen wieder das gleiche Bild. Vor der Klinik lag Müll großflächig auf dem Rasen verteilt, dazwischen weideten Kühe. Rund um das Gebäude waren Wäscheleinen gespannt, auf denen Bettwäsche und Dienstkleidung getrocknet wurde. Die Ambulanz für Geburtshilfe war überfüllt, es gab nicht genügend Stühle zum Sitzen, und so hockten oder lagen die Frauen auf dem Boden, umgeben von den Kindern, die sie schon hatten. Ein buntes Gewimmel aus Sari tragenden Schwangeren, herumkriechenden Kleinkindern und überforderten Ärzten und Schwestern, die sich ihren Weg durch die geduldig Wartenden bahnten.
Auch dieses Mal dachte Ania: Hoffentlich werde ich hier nie zur Patientin. Sie nahm sich wieder vor, genügend zu trinken, die Pausen nicht zu vergessen und sich abends in ihrer Wohnung mit Yoga und autogenem Training zu entspannen. Vermutlich war die Klinik für die Expats, die Ausländer, besser ausgestattet, aber konnte sie sich darauf verlassen?
Der Schulungsraum war schon gut gefüllt mit Frauen, die sich zur Hebamme ausbilden lassen wollten, ein neuer Beruf hier, den bisher kaum jemand kannte. Aus dem Büro hatten Ania und Jasmin Schautafeln und ausgedruckte Materialien mitgebracht, die sie an die Schülerinnen verteilten, denn einen Tageslichtprojektor oder gar einen Beamer konnte man hier nicht finden. Auch Einmalhandschuhe und sterile Instrumente für den Praxisteil hatten Ania und Jasmin mitgebracht. All das gab es hier nicht. Die Patientinnen, die steril behandelt werden wollten, mussten sich ihre Materialien selbst mitbringen. Das, was sie hatten, kochten Ania und Jasmin immer wieder aus, und Jasmin sagte oft, in ihrem vom Schweizer Akzent gefärbten Englisch: »Please, donʼt use something like this!«, und hielt eine angerostete Zange oder eine beschmutzte Pinzette so hoch, dass alle Teilnehmerinnen es sehen konnten.
Gleich an ihrem ersten Tag hier waren zwei Babys zu früh zur Welt gekommen. Alle Brutkästen auf der Kinderintensivstation waren kaputt gewesen, und Ania und Jasmin hatten die winzigen Kinder mit Decken und Lampen gewärmt. Ania hatte von ihrer ersten Geburt erzählt, die sie als Krankenschwester zufällig miterlebt hatte, auf einem Kreuzfahrtschiff, mitten in der Karibik. Es war eine junge Frau aus Stuttgart gewesen, deren Baby viel zu früh geboren wurde. Ania und ihre Kolleginnen hatten im Bordhospital den kleinen Jungen in Handtücher gehüllt und mit Kompressen gewärmt. Er hatte überlebt, und Ania hatte nach diesem Erlebnis beschlossen, den Beruf der Krankenschwester aufzugeben und Hebamme zu werden.
Von dieser Begebenheit sprach sie immer wieder gern. Sie hatte schnell gelernt, dass sie, wenn sie von sich selbst erzählte, die Stimmung zwischen ihren anfangs eher verschüchterten und oft nicht gut Englisch sprechenden Schülerinnen und Jasmin und ihr auflockern konnte. Man kam ins Gespräch, lachte, und vieles wurde leichter.
Mittags, als sie von der Toilette zurückkam, fiel Ania auf dem Flur der Ambulanz eine Frau auf, die allein und zusammengesunken, mit den Händen vorm Gesicht auf dem Boden saß. Ania, berührte sie sanft an der Schulter und sprach sie an. Die Frau war jung und sprach ein fast akzentfreies Englisch. Sie sagte, sie sei schwanger und fragte Ania, ob sie das Kind aus ihr herauswaschen könne. Aus ihren Augen sprach Angst. Ania fragte, was ihr passiert sei, sie dachte an eine Vergewaltigung, doch die junge Frau antwortete ihr nicht. Sie nahm die zwei schmalen Reifen aus Gold ab, die sie als einzigen Schmuck am Arm trug und hielt sie Ania hin. Ania zögerte, dann legte sie ihre Hand auf den Arm der Frau, lächelte sie an und schüttelte den Kopf. Sie half ihr auf und brachte sie ein paar Räume weiter zu einer Ärztin, die dort ambulant operierte. Dass sie das Geschenk abgelehnt und das Mädchen damit womöglich gekränkt hatte, ließ ihr den ganzen Nachmittag über keine Ruhe. Sicherlich waren die Armreifen das einzige, was die junge Frau besaß, sie hatte alle Hoffnung in Ania gelegt, und Ania bedauerte, dass sie keine Ärztin geworden war.
Noch am Abend, während der Massage, die sie sich nach dem anstrengenden Tag gönnte, dachte Ania über die Begebenheit nach. Ob das Mädchen befreit gegangen war? Oder hatte sie das Kind noch bei sich, musste es austragen und sich in einem halben Jahr wieder in der Klinik einfinden, um es zu bekommen, ein Kind, das sie nicht wollte und das sie immer an das erinnern würde, was vielleicht geschehen war? Es gab viele Frauen, die nach einer Vergewaltigung hierher fanden und auf Hilfe hofften, hatten die Kursteilnehmerinnen später, als sie im Kreißsaal Notfälle simulierten, berichtet, und Ania bereute es, nicht weiter nachgefragt zu haben.
Die Kursteilnehmerinnen erzählten ihnen auch, dass es nur wenige Frauen schafften, für die Geburt in eine Klinik zu gehen, die meisten bekamen ihre Kinder zu Hause, und Ania hatte sich, wenn sie an die überfüllten Räume der Ambulanz dachte, gefragt, wie viele Kinder am Tag hier wohl geboren wurden, in diesem Land, das so voller Wasser und Menschen war und nicht einmal genügend Raum für diejenigen zu haben schien, die schon hier lebten.

(...)



AUS BERNDS TAGEBUCH...  



Berlin, 14. August 2000


– Sommer. Zwischenstation Berlin. (von Ankommen nicht zu reden)
– Der Wecker tickt. Drei Uhr. (wieder eine schlaflose Nacht)
– Klinkenputzen, getarnt als Gespräch. (Termine kreiseln in meinem Kopf)
– reinschlagen könnte ich in die selbstgefälligen Visagen der Redakteure, der Agenturchefs. (in welcher Welt leben die eigentlich?)
– Warum wollen sie unbedingt eine Präsentation von mir? (Sprechen meine Fotos nicht für sich?)
– wenn nur die Leere danach nicht wäre, die Anstrengung, die mir noch tagelang in den Knochen steckt, das Gedankendurcheinander …
– ist es das wirklich wert?

Gedanken des Tages:
Zum Beobachten bin ich geboren, nicht zum Agieren. Und schon gar nicht zum Inszenieren. Wozu eigentlich inszenieren? Um Verborgenes nicht erkennen zu müssen? Um nur zu sehen, wonach ich suche, was ich sehen will? Gedankendurcheinander. Doch vieles wird klarer, wenn ich es aufschreibe. Ein Foto ist eine Momentaufnahme, ihr geht ein Prozess voran. Schreiben scheint mir mehr ein Prozess an sich zu sein. Wenn ich reise, bin ich meist allein mit meinen Eindrücken, meinen Ideen, meinen Erfahrungen. Fotos reichen nicht, das alles zu erfassen. Aufgeschriebenes auch nicht. Aber es ergänzt die Bilder. Und es befreit mich. Vor allem, wenn ich genügend Zeit und Ruhe in mir finde, um aus Fragmenten Texte, manchmal sogar Geschichten zu machen.


Berlin, 15. August 2000

Gerade gelesen: »Was die PHOTOGRAPHIE endlos reproduziert, hat nur einmal stattgefunden: sie wiederholt mechanisch, was sich existentiell nie mehr wird wiederholen können.«
(Roland Barthes »Die helle Kammer«)